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PROGRAMM |
Donnerstag 20.04.17, 18.00 Uhr
Eröffnung Retrospektive Peter Nestler – Indirect Cinema
Double-Feature in Anwesenheit von Peter Nestler:
„Die Ohren der Leute, die Filme sehen, sind verstopft vom Dreck, den man ihnen liefert,
und die Ohren der Leute, die Filme machen, sind verstopft vom Dreck aus ihren Hirnen.“
(Peter Nestler 1966)
Peter Nestler, das ist der Filmemacher, von dem der französische Filmkritiker
Michel Delahaye sagte, er sei der größte gegenwärtige Dokumentarist. Das war 1965
und Peter Nestler hatte gerade einmal fünf Kurzfilme fertiggestellt. Das Erstaunliche an
dieser Einschätzung ist, dass sie in eine Zeit fällt, in der das Direct Cinema
mit seinem neu entdeckten Einsatz von Handkamera und Synchronton als Befreierin
des Dokumentarfilms gefeiert wird. Man hoffte, sich nun mittels Kamera
und Tonbandgerät einer „reinen Beobachtung“ anzunähern und sich endlich
von der vorherrschenden und als autoritär empfundenen Kommentarstimme
befreien zu können. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Kommentarstimme hat sich
bis heute erhalten, ebenso der blinde und taube Glaube an einen direkten Zugang
zur Realität mittels synchronen Bild- und Tonaufzeichnungen – ersteres unter
DokumentarfilmerInnen, zweiteres unter HerstellerInnen und KonsumentInnen
von Nachrichtenmedien. Peter Nestler scheint dies nie so recht überzeugt zu haben.
Peter Nestler macht es anders und das seit mehr als 50 Jahren und rund 70 Filmen.
Nahezu singulär ist die Qualität seiner Kommentare, die zwar von ihm selbst eingesprochen,
doch nie privatistisch geraten. Aussagen Dritter werden häufig in indirekter Rede
wiedergegeben, hin und wieder bleibt offen, wo wessen Statement beginnt und aufhört.
Nicht etwa, um wichtige Spuren zu verwischen, sondern vielmehr, um zu einer größeren
inhaltlichen Präzision zu finden, mitunter gar, um die ProtagonistInnen zu schützen.
Wo die Mehrheit der FilmemacherInnen auf „Continuity“ und somit auf Anschlüsse bedacht ist, verzichtet Nestler auf diese und macht ein Fest daraus, Töne auf Bilder treffen zu lassen
oder einfach Bilder auf Bilder. Und so lässt Nestler die Gedanken über Bande laufen,
ohne je die Achtung vor den ProtagonistInnen, vor sich selbst und seinem Publikum zu verlieren.
Ödenwaldstetten - Ein Dorf ändert sein Gesicht
Peter Nestler, D 1964, 36 min
Ödenwaldstetten, ein Dorf im Schwäbischen. Die Landwirtschaft ist noch bestimmend,
die Kinder kommen im Sommer zu wenig in die Schule, weil sie auf dem Feld
gebraucht werden. 1964: Bald wird sich etwas ändern. Ich war überrascht,
dass so viele schon Pendler sind, weit wegfahren, um zu arbeiten und Geld zu verdienen.
Im Ort gibt es schon Hühnersilos und Melkanlagen. In der Brauerei - seit Generationen
im Familienbesitz - ist eine Flaschenabfüllanlage installiert. Die geht in einem Tempo,
das mit der Beweglichkeit des Menschen nichts zu tun hat.
1964 ist lang genug her, um zu überprüfen, was dieser Film als Dokument wert ist.
Es kommt da ein Text eines Dorfschullehrers vor, der sagt Wörter wie
«Bildungsreserven ausschöpfen». Die Neuformierung der BRD kündigt sich da an.
Der Lehrer spricht davon, dass früher eine Schule natürlich zur Hauptstraße hin
gebaut wurde, heute ist da so viel Verkehrslärm, dass im Sommer die Fenster
zu bleiben müssen. (Harun Farocki, 1979)
Zigeuner sein
Peter Nestler, D 1970, 47 min
In ihrer Sprache heißt Roma einfach Menschen. Der Film läßt diese Menschen davon sprechen,
wie sie verhaftet und in Lager und Gefängnisse gesteckt werden, dass 90 Prozent
ihrer Familien in den Lagern bleiben. Sie sprechen mit burgenländischem, bayrischem,
sächsischem Akzent; sie leben in trostlosen Baracken an den Stadträndern, zu zehnt in
einem Zimmer mit feuchten Wänden. Im Winter sind die Kinder ständig krank.
Peter Nestler fügt mit seiner dunklen schweren Stimme die weiteren Fakten hinzu.
Auch ein Lagerangestellter kommt zu Wort, der schildert, dass das „Zigeunerlager“
in Birkenau ihm, obwohl schon mit einer “Hornhaut” versehen, doch die Sprache verschlug.
Und am Ende fasst eine kluge Frau das ganze Unrecht, das diesen Menschen widerfahren ist,
präzise zusammen. Nein, sie haben sich in 600 Jahren nicht nicht assimiliert, sondern man
hat sie sich nicht assimilieren lassen. Und zwar bis in die Gegenwart.
Peter Nestler verwässert das weder sprachlich noch filmisch. Dieser Meilenstein
des Dokumentarfilms bezeugt zum ersten Mal und in direkter Sprache die Verfolgung
der Sinti und Roma am Beispiel Deutschland und Österreich.
„Die deutschen Fernsehanstalten haben sich nicht richtig getraut,
ihn zu senden (außer hier in Schweden Anfang der 70-er Jahre bei SVT).“
Peter Nestler
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